Der Laternenmann

In einem gefühlt früheren Leben (denn Corona lässt das ja alles ein wenig verschwimmen) war ich mit meinem Mann gerne mal in Hamburgs Kneipen unterwegs, besonders gerne in Altona. Immer mal wieder kam dann ein stiller, großer Mann mit einer Laterne rein.

Cornelius Bless hat Philosophie studiert, 20 Semester lang und eigentlich nie damit aufgehört. Er war ständig auf der Suche nach dem Sinn – und wollte diesen Wunsch nach Erkenntnis auch in anderen wecken. Dafür hatte er seinen Job in einer Druckerei aufgegeben und „arbeitete“ nun nachts, indem er seine Laternenrunden durch Bars zog, meist eben durch Altona, in der Schanze, in Eimsbüttel oder auf dem Kiez. Die Laterne war mit Bildern von Menschen beklebt, die Cornelius bewunderte: zum Beispiel Gandhi, Hermann Hesse, Sophie Scholl und Albert Einstein. Und sie war voll drapiert mit bunten Kärtchen, die man bei ihm dann für ein paar Münzen kaufen konnte.

Jedes Kärtchen enthielt einen Spruch, den Cornelius Bless sorgsam ausgesucht und auf die Karte gedruckt hatte. „Geistesblitze“ nannte er diese und sie sollten den neuen Besitzer zum Nachdenken anregen. „Ich will ja nicht primär Antworten geben, sondern Fragen wecken, Fühl- und Denkprozesse in Gang bringen“, hat er mal gesagt.

In der neuen Ausgabe der Hamburger Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt, die ich oft kaufe und gerne lese, ist ein langer Artikel über Cornelius Bless drin. Und mir blieb beim Lesen dieser Hommage an den Laternenmann staunend der Mund offen stehen angesichts der Welt und wie sich manches so zusammenfügt. Denn wie man auch oben im Bild erkennen kann, war Cornelius ein großer Fan von Paula Modersohn-Becker. Und diese Malerin hat meine Mutter unendlich verehrt, sie sogar als ihre verstorbene Seelenverwandte angesehen. Paula Modersohn-Becker wurde 1876 geboren und starb bereits 1907 im Wochenbett nach der Geburt ihrer Tochter Mathilda. Meine Mutter erzählte immer, dass die Wegbereiterin des Expressionismus und erste Künstlerin der Welt, der ein ganzes Museum (in Bremen) gewidmet wurde, sich wohl ein paar Tage nach der Geburt zu Gästen an den Tisch gesetzt habe. Dort habe sie noch gesagt: „Wie schade…“ und verstarb.

Der Lieblingsspruch von Cornelius Bless ist daher auch ein Zitat von Paula Modersohn-Becker und ich finde ihn ganz wunderbar:

„Dieser innere Sonnenschein, den ein jeder in sich trägt, der macht goldene Brücken.“

Cornelius Bless ist im April 2022 seinem Krebsleiden erlegen. Er konnte sich noch einen letzten Wunsch erfüllen, noch einmal mit seiner Mutter Lieder aus der „Mundorgel“ zu singen.

Ich werde ihn vermissen…

6 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich kenne keinen so warmherzigen und tiefgründigen Menschen wie dich, liebe Uta und hoffe sehr, dass ich dir das irgendwann mal persönlich sagen kann. Herzliche Grüße aus Bonn, Ute

    • Liebe Ute – ich bin ja selten sprachlos… bei Deinem Kommentar war ich es minutenlang! Wow, so ein wunderbares Kompliment bekommt man wirklich nicht alle Tage und ich fühle mich geehrt, beschenkt und freue mich sehr, sehr darüber! Vielen Dank!!!!

  2. Liebe Uta, Du als Seelenmensch triffst auf diesen interessanten Mann, und hat Dich auf Umwegen zurück zu Deiner Mama gebracht🙏.
    Was für eine tiefsinnige Begegnung.
    Geh unbedingt mal nach Worpswede, da gibt es viel aus dieser Künstlerkolonie zu sehen.
    Ferdi liebte diese Kunst. Ich hab 2 große Ölbilder von Tetjus Tügel, einer dieser Maler nach Paula.
    Drück Dich🥰

    • Liebe Elli,
      ich war natürlich schon des Öfteren in Worpswede und in Fischerhude. Schon als Kind mit meinen Eltern und meinem Bruder, zuletzt mit meiner eigenen Familie. Es sind Orte mit ganz besonderer Atmosphäre und jetzt haben sie für mich natürlich nochmal eine ganz neue, andere Bedeutung! Ebenso wie für Dich!

  3. Liebe Uta,
    ich bin sicher, wenn Deine Mama und Cornelius einander im Himmel treffen, werden sie einander viel zu erzählen haben – zwei offensichtlich Seelenverwandte ! Die Laterne wird weiterhin leuchten , so wie auch die Gesichter dieser beiden Menschen immer geleuchtet haben – ich schaue das Foto Deiner lieben Mutter an und schlagartig kommt der Wunsch in mir auf, sie zu umarmen und in diese absolute menschliche Wärme einzutauchen …
    Wie sehr musst Du sie vermissen ! War es eines Eurer Rituale, immer sonntags miteinander zu telefonieren ? Sicher begleitet sie Dich und Deinen Bruder gedanklich immer weiter …

    • Bei Deinem lieben Kommentar hatte ich wieder mal einen dicken Kloß im Hals, der sich dann in laufenden Tränen gelöst hat, liebe Susanne. So schön, was Du beim Anblick des Bildes meiner Mutter empfindest. Und ja – wenn man möchte, kann man ihr auf dem Foto ganz gut in die Seele blicken. Deswegen bin ich sehr froh, dass ich es habe.
      Ja, wir haben eigentlich jeden Sonntag miteinander telefoniert – aber auch in der Woche mehrmals. Dafür brauchten wir keinen direkten Grund, oft ging es einfach nur darum, die Stimme des Anderen zu hören…

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